VOM SCHMERZ IN DER WAHRNEHMUNG


Sterne sprachen einst zu Menschen
Ihr Verstummen ist Weltenschicksal;
Des Verstummens Wahrnehmung
Kann Leid sein des Erdenmenschen:

Es gibt wohl wenig, das so schwer zu ertragen ist, wie die Isolation, die wir empfinden, wenn wir nicht wirklich gesehen werden. Wenn wir nicht wahrgenommen werden, in dem, was wir in diese Welt bringen können und wollen: in unserem Werden. Dauert dieser Zustand an, verwandeln und verbergen wir den Schmerz, der darin liegt, oft in feste Formen, die sich zwischen uns und den Anderen legen: Eigeninteresse, Höflichkeit und Vorurteile, feste Bilder von uns selbst und Anderen, Glaubenssätze, Meinungen und unterbewusste Reaktionsmuster.

Ebenso empfinden wir aber, wenn wir einmal darauf lauschen, einen dumpfen Schmerz, wenn wir selbst nicht „wirklich sehen“ können[1], wenn wir den Schleier vor unserem Blick wahrnehmen: die Grenzen unserer eigenen Wahrnehmung, das Verstummen der Welt, wenn sie uns nicht mehr sprechend und sinndurchdrungen erscheint.

In der stummen Stille aber reift,
Was Menschen sprechen zu Sternen;
Ihres Sprechens Wahrnehmung
Kann Kraft werden des Geistesmenschen.

In dieser Trennung voneinander können wir jedoch eine Fähigkeit in uns entdecken, die neue Verbindung in die Welt bringt. Es beginnt vielleicht ganz leise mit einem erwachenden Interesse, unsere Aufmerksamkeit richtet sich aus und wird intensiver: Wir bringen dem Fremden etwas entgegen. Eine innere Geste der Hingabe. Verfolgen wir diese bis zu ihrer Quelle, erkennen wir sie als Liebeskraft und Ursprung der Sprache, noch bevor diese in die Erscheinungsform der Worte fällt.

MUT

Doch dieser Schritt bedarf eines vielleicht unerwartet kräftigen Mutes, auf den wir in diesem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer hingewiesen werden:

Sei wahr und wirf ihn weit zurück
den Schleier über deinem Blick!
Sieh‘ dich wie einen andern an
und nenn‘ all das, was du getan!
Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert,
das mitten in die Seele fährt.
Der Zauber weicht, es flieht der Schein,
die Luftgebäude stürzen ein.
Und wenn der Staub verronnen ist,
so nimm dich selber wie du bist!
Dann bau‘ erneut und bau‘ zu End‘
auf dies bescheid’ne Fundament!

Wahr-zunehmen bedeutet mit scharfem Schwert abzutrennen, aufzulösen und loszulassen, alles, was wir an Luftschlössern aufgebaut haben: unsere Vorstellungsbilder und Erwartungen, Interpretationen und Erklärungen.

KUNST

In der Kunst finden wir ein Erfahrungsfeld, das sich ganz hervorragend eignet, zu einem Schulungsweg in diesem Sinne zu werden. Ein Kunstwerk offenbart sich uns in seiner ganzen sinnlichen Erscheinung vollständig und bleibt doch zumeist und vorerst unverständlich. Gerade in der modernen Kunst ist die erste Herausforderung oft, das Werk überhaupt einmal eingehend wahrzunehmen, obwohl es unserem Verstand unzugänglich oder unzulänglich erscheint. Was erhält meine Aufmerksamkeit, wo ich nichts verstehe? Wohin blicke ich in einem Bild, das einfach blau ist, oder schwarz, oder verwaschen rot-orange-violett? Das mit grenzwertig unleserlichem Bleistiftgekritzel aufwartet oder als „Skulptur“ einer Ansammlung von Gegenständen gleicht, die auch in den Müll wandern könnte?

Hier beginnen wir uns selbst als Quelle einer freien Aufmerksamkeit zu entdecken, die wir geben können. Frei und unabhängig von allem Gegebenen. Nicht weil etwas so hübsch, nützlich oder interessant ist, schenken wir ihm unsere Aufmerksamkeit, sondern weil wir es können und wollen. Wir bemerken, das Kunstwerk ist nicht fertig, hat keine automatische Bedeutung, erfüllt keinen unmittelbaren Zweck, sondern entzündet einen Prozess, der an seiner Wahrnehmung erwacht und der selbst zur Erfahrung wird.

Nimmt man sich einmal eine halbe Stunde Zeit, mit voller Achtsamkeit in den Farbraum eines Gemäldes von Mark Rothko einzutauchen, bemerkt man sehr schnell, wie sich seine feste Gegenständlichkeit aufzulösen beginnt und in ein lebendiges Farbenspiel von außergewöhnlicher Tiefe und Plastizität übergeht. Die Wahrnehmung von Farbe auf Leinwand wird zur Wahrnehmung eines sich beständig wandelnden Prozesses. Ich kann aber auch bemerken, wie dieses Schauspiel, das sich in jedem Moment verändert, dies nicht willkürlich tut, sondern in intimer Verbundenheit mit meiner Weise des Schauens, der Gestimmtheit meiner Aufmerksamkeit und ihrer Wachheit. Die Wahrnehmung des einstmals äußeren Bildes wird zum Erfahrungsraum des eigenen Bewusstseins.

Langsam lernen wir nicht nur Gegenstände, Probleme und Symptome, sondern Entwicklungen, Möglichkeiten und Verwandlungen wahrzunehmen, die gerade geschehen können, weil wir ihnen unsere Aufmerksamkeit frei geben.

Allein schon diese Fähigkeit zeigt einen unschätzbaren Wert, wenn sie in unseren täglichen Lebensfeldern eingebracht werden kann: als entwicklungsorientierte Führungsqualität in Organisationen, als Grundlage einer Pädagogik, die sich von der wahrhaftige Wahrnehmung und Achtung des Potenzials eines Menschen inspirieren lässt oder einer Medizin, die den Pendelschlag von dem, was wir Krankheit und Gesundheit nennen, als Transformationsprozesse erfassen kann.

Es hat eine gewisse Brisanz, dass gerade diese Fähigkeiten der freien Aufmerksamkeitskräfte einer außergewöhnlichen Prüfung unterzogen werden durch die Technologisierung unserer Lebenswelt. Das Mysterium eines Phänomens wird nicht zur inneren Frage, sondern zu einer Google-Anfrage. Unsere Wahrnehmung verfeinert sich nicht durch hingebungsvolle Beobachtung, sondern erweitert sich in eine „augmented reality“, in der Algorithmen die Ausdeutung und Vernetzung der Welt leisten und ihr den Zauber des Virtuellen verleihen, der die Begrenztheit der Dingwelt überwindet. Vor allem aber finden wir eine Tendenz, unseren Aufmerksamkeitsstrom beständig zu unterbrechen und immer weniger selbst zu führen. Beobachtbar wird dies an zahlreichen Phänomenen wie:

  • in den immer rasanteren Schnittraten der Filme, die wir schauen,
  • in Computerspielen, die Reaktionsmuster als Handlungsmodus fördern und unsere Aufmerksamkeit so stark absorbieren und von unserer Leiblichkeit abtrennen können, dass Menschen vor dem Bildschirm schon verdursteten und
  • in der Unterbrechung unseres Aufmerksamkeitsstromes im Sekundentakt durch die modernen Kommunikationsformen des „immer und überall online seins.“
  • Gleichzeitig erschaffen wir uns digitale Kopien unseres Selbstes mit den Avataren unserer Social-Media- Profilen und Computerspielidentitäten, die tatsächlich die Kraft haben, einen beträchtlichen Teil unserer freien Aufmerksamkeitskräfte an sich fest zu binden und zur reinen Selbstbildempfindung zu reduzieren.

Darin könnten wir die Tragik des modernen Menschen erkennen. Entscheidender wird aber sein, dass uns diese Entwicklungen auf die notwendige Ausbildung und Stärkung von Fähigkeiten mit großer Macht hinweist, die uns in dieser Welt des Digitalen als geistig wache, lebendig-empfindsam beseelte und eigeninitiativ tatkräftige Menschen bestehen lassen.

Es gibt ganz offensichtlich viele Dimensionen und Aspekte der Wahrnehmungsschulung als im besten Sinne „bescheid’nes Fundament“ unseres Wirkens, die in der Kürze eines Artikels nur angedeutet werden können. Umso mehr freue ich mich mit Ihnen in einer Reihe von Veranstaltungen das “Forschungsfeld Wahrnehmung“ mit verschiedenen Anwendungsschwerpunkten intensiv zu bearbeiten.

Jannis M. Keuerleber

Seminare zum Thema im Herbst 2018 im FAKT 21, Bochum:

Kunst & Erfahrung im Dialog

Sept, 13.Okt, 03.Nov, 1. Dez (einzeln besuchbar)
14:00 – 19:30 / 18:00 -22:30 Uhr (Abendveranstaltungen)

Wahrnehmen | Handeln und Entscheiden

14./15.Sept, 12./13.Okt, 02./03.Nov
Fr: 19:30 – 21:30 / Sa: 9:00 -13:00 Uhr

[1] Was hier in der Sprache des Sehens angesprochen ist, gilt selbstverständlich für das gesamten komplexe Feld unserer Wahrnehmung physischer, seelischer und geistiger Phänomene.